Freitag, 8. Juni 2007

FLURBEREINIGUNG






Donnerstag, 24. August 2006







CHRISTINE KOZLOV
NO TITLE
(TRANSPARENT FILM # 2)
1967



NICHTS

Emil Nolde
Aus dem NICHTS alles herausholen — was nicht darinnen war, ein wunderbares Glück göttlicher Schöpferkraft.

Hugo Ball
Was man gemeinhin Wirklichkeit nennt, ist, exakt gesprochen, ein aufgebauschtes NICHTS. Die Hand, die zugreift, zerfällt in Atome; das Auge, das Sehen will, löst sich in Dunst auf. Wie könnte das Herz sich behaupten, wenn es die Tatsachen gelten liesse? Wer eine Neigung hätte, auf Tatsachen zu insistieren, der müsste gar bald die Erfahrung machen, dass er noch weniger als ein NICHTS, nur Schatten des NICHTS und Befleckung durch diese Schatten gesammelt hat.

Meister Eckhart
Das Versinken in die höchste Gottheit ist im Grunde ebenso ein Sturz in den Abgrund des NICHTS.

Leonardo da Vinci
Das NICHTS hat keine Mitte, und seine Grenzen sind das NICHTS. Unter den grossen Dingen, die unter uns zu finden sind, ist das Sein des NICHTS das Grösste.

Maurice Maeterlinck
Kein Körper und kein Gedanke kann aus dem All, aus Zeit und Raum hinausfallen. Kein Atom unseres Leibes, keine Schwingung unserer Nerven kann zu NICHTS vergehen, denn es gibt keinen Ort, wo nichts ist.

Georg Christoph Lichtenberg
Dass die schwarze Nulle, die wir da fallen sehen, ein unadeliges NICHTS bedeutet, ist wohl gewiss, ob aber eine Krämerstochter oder einen Läufer oder Kammerdiener, kann hier nicht ausgemacht werden.

Maurice Maeterlinck
Um etwas zu vernichten, das heisst ins NICHTS zu schleudern, dazu müsste das NICHTS vorhanden sein. Ist es aber vorhanden, in welcher Form es sei, so ist es nicht mehr das NICHTS.

Martin Meier
Das Verschwinden des Lebens sprengt das Mass der Vorstellung, ohne dass dem skeptischen Gemüt die Tür zum Jenseits offen stünde. Im Hintergrund beunruhigt vielmehr der Gedanke einer katastrophalen Bilanz: So viel Anstrengung und Leid für das »NICHTS«.

Meister Eckhart
Gott ist ein solcher, dessen NICHTS die ganze Welt erfüllt, sein Etwas aber ist Nirgends.

Sir Isaac Newton
Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen ist ein Ozean. (NICHTS?)

André Comte-Sponville
Nur das NICHTS ist rein, aber das NICHTS ist NICHTS: Das Sein ist ein Schmutzfleck in der Unendlichkeit der Leere, und alle Existenz ist unrein.

Kaspar Hauser
Sind wir aus NICHTS gekommen und gehen zurück / ins NICHTS? Ich weiss es nicht. Ich weiss nicht, wo ich gewesen bin. Das ist alles.

Claudio Magris
Viele Jahre lang hatte Svevo die Literatur wie ein geheimes Laster betrieben, eine Gymnastik, um sich auf das NICHTS einzuüben und ihm Schimmer und Bruchstücke von Wahrheit zu entreissen.

Hans Much
Man untersucht mit grosser Sorgfalt ein Ding, das es gar nicht gibt, um festzustellen, dass es das Ding nicht gibt.

Arthur Schopenhauer
… vor uns bleibt allerdings nur das NICHTS.

Max Schoch
Der Inhalt des religiösen Erfahrens ist verschiedenartig, wenn man den Weg der schweigenden Versenkung geht. Wir erfahren das Schweigen und das NICHTS als die Hüllen der Gottheit und des Seins. Es ist aber nicht so eindeutig, wie ich das soeben miteinander verbunden habe. Esi ist nicht so eindeutig, ob ich wirklich das NICHTS und als Hülle oder Vorhalle erlebe oder nicht eher al einen Abgrund, der alles verschlingt.

Martin Schwarz
NICHTS, das ist mir schon zuviel.

Johann Wolfgang Goethe
Was sich dem NICHTS entgegenstellt, das Etwas, diese plumpe Welt.

Charles Baudelaire
Wie doch ein närrisch aufgemachtes NICHTS entzückt!

E.M. Cioran
Man kann nichts von NICHTS sagen.

Johann Wolfgang Goethe
Das Ewige regt sich fort in allem: Denn alles muss in NICHTS zerfallen, wenn es im Sein beharren will.

Johann Wolfgang Goethe
Besser wäre wenn NICHTS entstünde. (Mephistopheles).

Karl May
Du Null, du NICHTS, du Loch in der Natur.

Matthias Claudius
NICHTS ist so elend als ein Mann, der alles will, und der nichts kann.

Johann Wolfgang Goethe
Die Farbe Blau ist ein reizendes NICHTS.

Giacomo Leopardi
Die Erfahrung des NICHTS: »Sah ich jemanden, der mir so gleichgültig wie möglich sein konnte, aus unserem Hause gehen, so überlegtre ich, ob es wahrscheinlich oder möglich wäre, dass ich ihn wiedersähe. War die Antwort nein, so hielt ich mich in seiner Nähe, ihn anzusehen, ihm zuzuhören und dergleichen mehr, und folgte ihm mit den Augen oder mit dem Ohr, solang ich nur konnte, wobei ich immerfort zu mir selber sagte, meinem Gemüt einprägte, im Geist den Gedanken fortspann: Dies ist das letze Mal, ich sehe ihn niemals wieder, oder wahrscheinlich nie wieder«.

Franz Kafka
Später, als junger Mensch, verstand ich nicht, wie Du mit dem NICHTS vom Judentum über das Du verfügst, mir Vorwürfe deshalb machen konntest, dass ich (schon aus Pietät wie Du Dich ausdrücktest) nicht ein ähnliches NICHTS auszuführen mich anstrenge. Es war ja wirklich, soweit ich sehen konnte, ein NICHTS, ein Spass, nicht einmal ein Spass.

Jürgen Raap
Null und Unendlich sind die mathematischen Pole des NICHTS.

Epikur
Ferner gewöhne Dich an den Gedanken, dass der Tod ein NICHTS ist. Beruht doch alles Gute und alles Üble nur auf Empfindung, der Tod aber ist die Aufhebung der Empfindung. Darum macht die Erkenntnis, dass der Tod ein NICHTS ist, uns das vergängliche Leben erst köstlich.

Hans Arp
Herr Je / das NICHTS ist bodenlos. / Frau Je / Das NICHTS ist unmöbliert./ Da nützt euch auch kein Kreuzbesteck mit dem ihr fleissig exerziert.

Johann Wolfgang Goethe
In deinem NICHTS hoff ich das All zu finden. (Faust).

René Magritte
Das NICHTS ist das einzige grosse Weltwunder.

Arthur Schopenhauer
Witz ist das Zusammenbrechen einer grossen Erwartung in ein NICHTS.

Kurt Tucholsky
Das NICHTS hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rand eines Lochs schwindlich wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs ... ... festlig? Dafür gibt es kein Wort.

Albert Ehrenstein
Ich sehnte mich nach Weibern, leibig, brüstig, nach einem weichen Bauche lagerbildend, den daunenzarten Küsten eines schlanken Mädchens, umwarb, durchsuchte körperliche Tiefen und fand das NICHTS, zu gutem Fleisch gestaltet.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
... das NICHTS das erste, woraus alles Sein, alle Mannigfaltigkeit des Endlichen hervorgegangen ist.

Angelus Silesius
Gott ist ein lauter NICHTS.

Sissi, Kaiserin von Oesterreich
Das Leben ist eine schreckliche Unterbrechung des NICHTS.

Christine Tresch
… ohne Sprache wäre für ihn überhaupt NICHTS. (zu Martin Walser).

Ernst Hövelborn
In der Nacht kann sich das Ich einer Form der Absurdität nähern, hin zu einer relativen Existenz, die seine Tagvorstellungen von einem freien und autonomen Wesen ins NICHTS führt.

Lucretius
Aus NICHTS wird NICHTS.

Apollinaire
… tiefgründige Skulptur aus NICHTS, wie die Poesie und der Ruhm. (zu einer verschollenen Skulptur von Picasso).

Paul Celan
Dein Aug, dem NICHTS stehts entgegen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Der Mensch ist diese Nacht, dies leere NICHTS, das alles in ihrer Einfachheit erhält, ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder deren keines ihm gerade einfällt oder die nichts als gegenwärtig sind.

Aldous Huxley
Wenn man absolut alles sagt hebt es sich leicht zu NICHTS auf.

Gotthold Ephraim Lessing
Des Menschen Hirn fasst so unendlich viel, und ist doch manchmal auch so plötzlich voll, von einer Kleinigkeit so plötzlich voll! Taugt NICHTS, taugt nichts, es sei auch voll wovon es will.

Franz Grillparzer
Das NICHTS kann man schon darum nicht denken, weil dabei immer das Denken übrigbleibt und man somit keineswegs das NICHTS gedacht, sondern nur vom Objekt abstrahiert hat.

Pier Paolo Pasolini
Wer das NICHTS will, will die Macht.

Gottfried Keller
»NICHTS!« rief Judith, »oh du närrischer Gesell! Willst Du in ein Kloster gehen?«

Franz Kafka
»Was will er haben?« ruft der Händler. »NICHTS« ruft die Frau zurück, »es ist ja NICHTS, ich sehe NICHTS, ich höre NICHTS, nur 6 Uhr läutet es und wir schliessen.«

William Shakespeare
Dies NICHTS ist mehr als etwas.

Ernst Hövelborn
In der Nacht kann sich das Ich einer Form der Absurdität nähern, hin zu einer relativen Existenz, die seine Tagvorstellungen von einem freien und autonomen Wesen ins NICHTS führt.

Martin Heidegger
Der Mensch ist der Platzhalter des NICHTS.

Ernst Hövelborn
Ungeheuer bleibt die offene Stelle, wo die Konstruktion endet und die Destruktion beginnt, jene Wunde im Bestand des Seienden, die nicht heilen will. Nichtig stellt sie sich dar, eingebunden ins Geläufige ist sie nicht mehr als ein Riss der hinabschauen lässt, in die Nacht des NICHTS sein Kopfkissen bettet.

Paul Celan
Das NICHTS rollt seine Meere zur Andacht.

Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz
Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr NICHTS?

Arthur Koestler
Gehe ins NICHTS hinein und bete.

Fernando Pessoa
Jedes Ding ist, je nachdem, wie man es betrachtet, ein Wunder oder ein Hindernis, ein Alles oder ein NICHTS, ein Weg oder eine Sorge.

Martin Schwarz
nICHts nICHts nICHts …

Rose Ausländer
Noch bist du da / Wirf deine Angst / in die Luft / Bald / ist deine Zeit um / Bald / wächst der Himmel / unter dem Gras / fallen deine Träume / in NIRGENDS.

Christian Friedrich Hebbel
Die Menschen haben viele absonderliche Tugenden erfunden, aber die absonderlichste von allen ist die Bescheidenheit. Das NICHTS glaubt dadurch etwas zu werden, dass es bekennt: "Ich bin NICHTS!"

Martin Heidegger
Das NICHTS der Schleier des Seins.

Gottfried Keller
Das NICHTS ist ein krankhafter Abszess, ein Abfall Gottes von sich selbst.

Max Stirner
Ich hab’ mein Sach’ auf NICHTS gestellt.

Wolfgang Borchert
Ein Regentropfen, der zu NICHTS zerstoben, der hat gesehen, was niemand sonst noch sah.

Max Ernst
Le NEANT et son double (das NICHTS und sein Doppelgänger). (Titel eines Werkes aus dem Jahre 1967 im Katalog von Werner Spies

.)Martin Heidegger
Der Tod ist der Schrein des NICHTS, ... (In einem 1950 gehaltenen Vortrag).

E.M. Cioran
Angesichts des Todes schwanke ich unaufhörlich zwischen dem »Geheimnis« und dem »GARNICHTS«.

Friedrich Nietzsche
Gibt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendlichees NICHTS? Haucht uns nicht der leere Raum an?

Arthur Schopenhauer
Wir fürchten das NICHTS, wie die Kinder das Finstere.

Hugo Ball
Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem NICHTS.

Ansgar Stöcklein
»Creatio ex nihilo«. In der Zeit, in der die Schöpfung aus dem NICHTS derart zur technischen Aufgabe erklärt wird, beschäftigen sich viele Überlegungen und Experimente mit dem leeren Raum. Zunächst musste man das "NICHTS" haben, bevor etwas daraus geschaffen werden konnte.

Otto von Guericke
Der Erste aber, der ein Gefäss mit NICHTS füllte, war der Bürgermeister von Magdeburg, Otto von Guericke. 1654 führte er auf dem Reichstag zu Regensburg die Magdeburger Halbkugeln vor, zwei Kupferkugeln, aus denen er die Luft herausgepumpt hatte, und die deshalb allein durch den Luftdruck von aussen derart hermetisch zusammengepresst wurden, dass keine Pferdegespanne sie auseinanderziehen konnten.

Jean Amery
Die öffentliche Scheinfrage, die Erforschung der Grenz-Negativität, das Denken des NICHTS, das zugleich ein Nicht-Denken ist – sie des Menschen letzte und äusserste Seinsfrage.

Hermann von Helmholtz
Das Gesetz von Helmholtz das der gesamten Physik und Astrophysik unserer Epoche bis zu Einsteins E = m2 den Sockel liefert, wurde 1842 von dem Arzt Julius Robert Mayer entdeckt und von Fachleuten zunächst mit grösster Skepsis aufgenommen, bis Helmholtz, der zuerst selbst daran zweifelte, es nachprüfte, untermauerte und 1847 bestätigte. Es besagt, dass die Summe aller Energie konstant bleibt, und dass deshalb Energie weder aus dem NICHTS entstehen noch ins NICHTS vergehen kann, da sich die einzelnen Energiearten immer nur untereinander verwandeln können.

Christian Friedrich Hebbel
Alles kann man sich denken, Gott, den Tod, nur nicht das NICHTS.

Jakob Bosshart
Einsamkeit ist ohne Gemeinschaft nicht möglich, so wenig wie das NICHTS ohne das Sein.

Johannes Tauler
Sobald man einen Drang nach Aufsehen inwendig oder auswendig wahrnimmt, dann soll man sofort wieder in den allertiefsten Grund sinken, schnellstens, ohne Zögern; in dem Grunde sine in dein NICHTS.

Gino Cavaluzzi
Wenn die Deutschen "NICHTSTUN" sagen, meinen sie damit immer noch mehr das Tun als das NICHTS.

Nicolas Chamfort
Man zerstört seinen eigenen Charakter aus Furcht, die Blicke und die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen, und man stürzt sich in das NICHTS der Belanglosigkeit, um der Gefahr zu entgehen, besondere Kennzeichen zu haben.

Hiob
Nicht traue er auf nichtiges, er ist getäuscht, denn das NICHTS wird seine Vergeltung sein.

Otto von Guericke
Es ist alles, was ist, im NICHTS, und so Gott das Gefüge der Welt, das er schuf, wieder zu NICHTS zurückschüfe, nichts bleibe an seiner Statt als das NICHTS, das Unerschaffene, so wie es war vor dem Anfang der Welt. Denn Unerschaffenes ist, dessen kein Anfang ist, das NICHTS ist, dessen kein Anfang ist. Alles schliesst es ein, das NICHTS. Köstlicher ist es als Gold. Fremd ist dessen Werden und Vergehen. Es ist erquickender als der Anblick des Lichts, edler als der Könige Blut, dem Himmel gleich, höher als alle Gestirne, gewaltiger als der Strahl des Blitzes, vollendet und durchaus beglückend. Das NICHTS ist aller Weisheit voll. Wo das NICHTS ist, endet der Könige Machtgebot, nur das NICHTS kennt keine Leiden. Über dem NICHTS, spricht Hiob, hanget die Erde. Ausser der Welt ist nur das NICHTS. Das NICHTS ist allenthalben.

Rudolf Carnap
Soll das Wort NICHTS gross oder klein geschrieben werden? Nach Auffassung der Positivisten, etwa der Wiener Schule Rudolf Carnaps, wäre jedenfalls Kleinschreibung geboten, denn demnach ist nichts lediglich das Gegenteil von etwas — nichts weiter. Die Grossschreibung und somit die Substantivierung des Wortes »NICHTS« signalisierte sonst ein Scheinproblem, das in den Bereich der Metaphysik zu verweisen wäre.

Bernard Amsler
Das NICHTS ist ohne Fehler.

Eberhard Rother
Die Frage nach der Bedeutung von NICHTS kann nicht allein formal-logisch beantwortet werden, denn es geht hierbei um die Frage nach der Erlebbarkeit von NICHTS. Das Erlebnis von NICHTS ist eine Möglichkeit unseres Bewusstseins, und die Beurteilung der realen Wirkung von NICHTS unterliegt daher einer bewusstseinsgeschichtlichen Perspektive. (...) Bewusstseinsgeschichtlich betrachtet lässt sich nun leicht feststellen, dass das NICHTS nicht etwa eine metaphysische Chimäre, sondern ein handgreiflicher und sinnlich erfahrbarer Gegenstand ist, ein Ding, oder wenn man so will, ein Un-Ding.

Maurice Maeterlinck
Dem Wesen unsres Verstandes und wahrscheinlich jedes denkbaren Verstandes ist es ebenso unmöglich, das NICHTS zu begreifen, wie die Begrenzung des Unendlichen. Zudem gibt es nur ein negatives Unendliches eine Art unendlicher Finsternis im Gegensatz zu dem Unendlichen, das unser Verstand zu durchleuchten sucht.

Patricia Highsmith
»Die Morgen des ewigen NICHTS« (Titel ihrer ersten Erzählung)

Johannes Tauler
… also versinkt das geschaffene NICHTS in das ungeschaffene NICHTS; das aber ist etwas, was man nicht verstehen oder in Worte fassen kann.

Maurice Maeterlinck
Stürzte der Tod uns ins NICHTS, so müsste uns ja die Geburt aus dem nämlichen NICHTS ziehen.



VERBLENDUNG

E. M. Cioran
Die negative Seite des Fortschritts


Das Dasein hätte einen Sinn haben können, wenn es uns gegeben worden wäre, dem Alptraum des Werdens zu entkommen. Da wir unfähig sind, uns die ewige Gegenwart vorzustellen, gelingt es uns auch nicht, das Paradies zu imaginieren. Diese Unfähigkeit wird immer schlimmer, je weiter wir voranschreiten. Man kann behaupten, daß die Geschichte als ganze auf eine Hypertrophie, ja, eine Perversion unseres Sinnes für die Zeit hinausläuft. Den Aberglauben an das Beste erfunden zu haben, die Vorstellung, daß jeder Schritt vorwärts einen Sieg über das Böse bedeutet, daß das Werden als solches notwendig ein positives Prinzip in sich birgt – das ist unser verderbliches Privileg.

Die Idee des Fortschritts ist unvermeidlich mit der Idee der Zeit verknüpft, aber nicht irgendeiner Zeit. Die Vorstellung der stetig wiederkehrenden Zeit, die der Antike eigen war, konnte nicht zur Idee eines unbe grenzten Fortschritts führen, wie sie sich der moderne Optimismus, insbesondere derjenige Condorcets, ausdenken sollte. Eine Parenthese sei erlaubt: Ich gehe nie durch die Rue Servandoni in der Nähe der Kirche Saint-Sulpice, ohne vor dem Haus stehenzubleiben, in dem sich einer der glühendsten Anhänger der Revolution, eben Condorcet, bei einer alten Dame einige Monate lang versteckt hielt. Unvorsichtigerweise verließ er diese Bleibe, flüchtete in einen Vorort und wurde dort festgenommen. Um der Guillotine zu entkommen, nahm er sich das Leben. Unter welchen Bedingungen hat dieser Aristokrat die Illusion aller Illusionen ersonnen! Die Faszination für die Zukunft hat immer dazu geführt, daß verführerische Systeme aufgestellt wurden. Das ganze letzte Jahrhundert hindurch war Fortschritt gleichbedeutend mit Heil. Wenn ich versucht bin, an die Zukunft zu glauben, genügt mir ein kurzer Halt vor besagtem Haus, um mir jede Anwandlung von Überschwang auszutreiben.

Zweifelsohne kommen wir voran, aber wir machen keine Fortschritte. Zahlen müssen wir für alles. Für jede Tat müssen wir büßen. Der geringste Schritt vorwärts wird eines Tages bereut, denn all unsere Errungenschaften wenden sich letztlich gegen uns. Der Augenblick wird sogar kommen, wo wir voller Ungeduld der alten, wunderbaren Seuchen harren, wo die unmittelbar bevorstehende Lepra den Kannibalismus wieder in Mode bringen wird. Endlich seltener geworden, werden uns unsere Mitmenschen erträglich erscheinen.

Da alles, was der Mensch erfindet, sich gegen ihn auflehnt, wird er sich umso schneller seinem Ende nähern, je mehr er sich abplagt. Keine Krankheit wird sich seiner Kompetenz, seiner Indiskretion entziehen, vielleicht nicht einmal mehr irgendein Geheimnis. Alles wird er erklärt, alles geheilt, alles bloßgestellt haben, da er aber nicht den Sinn von all dem gefunden hat, ist es nicht ersichtlich, wie er in einer Welt wird überleben können, die jeder Berechtigung und jedes Mysteriums beraubt ist.

Wir dürfen nicht vergessen, daß die Neugierde den Sündenfall verursacht hat, daß das Paradies weiterhin hätte bestehen können, wenn wir uns versagt hätten, vom Baum der Erkenntnis zu kosten. Es steht fest, daß die Neugierde etwas Morbides hat. Wir hätten die Dinge auf sich beruhen lassen sollen, haben aber genau das Gegenteil getan. Die Spuren des Menschen sind unheilvoll: Reinheit gibt es nur, wo er nicht vorhanden ist, aber er wird erst unwiderruflich verschwinden, wenn er das allerletzte Heilmittel entdeckt hat. Nach dem Besiegen aller Krankheiten wird er sich … zu Tode langweilen, es sei denn, er würde ungewöhnliche Foltern erfinden, die ihn noch einige Jahrhunderte lang in Stimmung bringen könnten. Sicher ist, daß sein Ende ihn immer mehr beschäftigen und seinen Erfindungsgeist stimulieren wird – eine Möglichkeit, eventuell einem beispiellosen Überdruß zu entkommen.

Ein Säugetier, das ein unbedeutendes Schicksal hätte haben sollen, ist in ein Abenteuer verwickelt, das es übersteigt. Wie die Dinge nun einmal liegen, gibt es auf die Frage: wie wird sein Ende sein? nur eine Antwort: es ist unmöglich, ja unvorstellbar, daß er gut endet. Alle seine Unterfangen haben ausnahmslos eine schlechte Wendung genommen, je hervorragender sie waren, um so großartiger das Fiasko, das sie krönte. Augenscheinlich ist ein solches Wesen nicht geschaffen worden, um zu reflektieren, sondern um zu agieren, sich aufzuregen, sich zu verrenken. Von allen Tieren ist dem Affen am wenigsten Diskretion, Schamgefühl und Anziehungskraft eigen. Er ist der subtilste von ihnen und dennoch entehrt er die zoologischen Gärten. Bei solch einem Ahnen ist es kein Wunder, daß seine Nachkommen so sind, wie sie sind. Wir sollten niemals unsere Herkunft vergessen, weder bei Anwandlungen von Stolz noch bei Anwandlungen von Niedergeschlagenheit. Verwunderlich ist, daß bei solchen Vorfahren Heilige und Dichter das Licht der Welt erblickt haben. Und wie ist die verblüffende Weisheit der Verfasser der Genesis zu erklären?

Der Mensch hätte sich nicht der Tat verschreiben, sondern in die Passivität eintauchen sollen, er hätte das konsekrierte Nichts unverändert bestehen lassen und selber mit einer einzigartigen Gleichgültigkeit anfangen und enden sollen. Die Geschichte ist eine Sünde, seine Sünde. Diejenigen, die die Zukunft vergötzen, sind solidarisch mit den Erben Adams, deren Hochmut sich als Quelle des Unheils erwiesen hat. Die Aufklärung hat die Idee des Falles, des ursprünglichen Bösen verworfen, daher rührt ihre glanzvolle Fassade und die Anziehungskraft, die sie auf die zugleich subtilen und naiven Geister ausübt. Der rosafarbene Zynismus ist die Triebfeder aller Umwälzungen.

Die Unmöglichkeit, einen Zugang zum ewig Gegenwärtigen zu finden, ist verknüpft mit der Faszination für das Mögliche, ohne das die Fortschrittsidee keinen Sinn hätte. Unsere Eltern haben uns die Idee der Effizienz eingetrichtert, wir sind schuldig, weil wir nicht den erforderlichen Widerstand aufbringen. Es wäre weit besser gewesen, wenn wir stillgehalten hätten, ohne uns ständig übertreffen zu wollen, ohne danach zu trachten, uns zu vervollkommnen. Das Ergebnis dieses Bemühens erweist sich immer als katastrophal. Jeder prüfe sich selber, bedenke seinen Fall und lege ein Geständnis ab! Wenigstens zu einem Teil ist jeder selbst daran schuld, so zu sein, wie er ist. Ich bin am Rande der Karpaten zur Welt gekommen. Mein Dorf liebte ich innig. Als ich zehn Jahre alt war, mußte ich es verlassen, um in der Stadt aufs Gymnasium zu gehen. Das war für mich eine Schicksalsprüfung, die ich nie vergessen werde. Das Schauspiel eines Tieres, das zum Schlachthof geführt wird. Die zu Tode Verurteilten haben vermutlich vor der Hinrichtung ahnliche Gefühle. Ich wußte, daß ich alles verlor, daß ich aus meinem Garten Eden vertrieben wurde und daß ich eine solche Strafe nicht verdiente. Wenn ich am Ende meines Lebens daran zurückdenke, finde ich, daß meine Reaktion berechtigt war, daß die »Zivilisation« im Grunde ein Irrtum ist und daß der Mensch in enger Verbindung mit den Tieren, kaum von ihnen unterschieden, hätte leben sollen. Auf keinen Fall hätte er das Stadium des Hirten überschreiten sollen. Die Krönung eines Lebens läuft letztlich auf ein tadelloses Mißlingen hinaus.

Eine ungeheure Dosis von Blasiertheit ist nötig, um ohne Utopie leben zu können. Der Fortschrittsgedanke ist aber die Utopie schlechthin. Sogar diejenigen, die es ab¬lehnen, daran zu glauben, stimmen ihm unbewußt zu. Man könnte meinen, daß wir seit jeher nur die Bedeutung dieses Makels, unseres Makels, bagatellisiert haben. Die Geschichte ist letztlich nur die Entfaltung und sozusagen die Betonung dieser ursprünglichen Anomalie, ohne die der Schlüssel des Werdens nicht gefunden werden kann. Vielleicht müßte man noch weiter zurückgehen, im Lebensprinzip selbst eine initiale Unreinheit anerkennen, einen Hang zum Negativen – die Originalität des Organischen im Vergleich zum Unorganischen bestünde in einem zerstörerischen, dämonischen Prinzip. Das Leben wäre also nur eine Verirrung der Materie, daher der Fluch, der allem anhaftet, was sich bewegt, allem, was atmet.

Nur um die Folgen dieser »schwarzen«, depressiven Sicht zu neutralisieren, hat sich der Fortschrittsgedanke mit solcher Eindringlichkeit unser aller bemächtigt. Man könnte sogar behaupten, daß die zwei Jahrhunderte, die uns von der Revolution trennen, einzig darauf abzielten, die erbarmungslose Vorstellung, die der Mensch sich von seinen Anfängen gemacht hat, zu untergraben. Zwei Jahrhunderte erzwungener Illusion! Der Erfolg ist unleugbar, aber alles andere als vollständig. Das, was ihn so aufsehenerregend hat werden lassen, bedroht ihn jetzt: die Höchstleistungen der Wissenschaft, die offenkundig ein ambivalentes Wunder geworden ist und allmählich die Hoffnungen unterminiert, die sie hervorgerufen hatte. Die Wissenschaft wird, wenn sie es nicht schon getan hat, der Erwartung des endgültigen Triumphes den Todesstoß versetzen. Die biblische Warnung hinsichtlich der Gefahr, die mit dem Baum der Erkenntnis verbunden ist, war also berechtigt. Um das einzusehen, brauchen wir nur abzuwarten. Die scheinbar rückständigste Prophezeiung hat ins Schwarze getroffen. Die sogenannte naive Menschheit am Anfang unseres Abenteuers hat dessen Risiken entschiedener aufgedeckt als Jahrhunderte von Nörglern. Aber es stand geschrieben, daß das Paradies von Beginn an zerbrechen sollte.

Man kann nicht vor der Zukunft fliehen. Der Mensch stürzt auf sie hin, fasziniert und entsetzt zugleich, er wird schließlich sogar Gefallen daran finden, denn der Abgrund ist sein eigenes Produkt. Was er auch anstellen mag, er muß auf seinen Zusammenbruch zueilen, und diese Komplizenschaft mit dem Abgrund bildet seine Originalität. Würde er zu den Gewinnern gehören, so wäre er keiner Überlegung wert, aber da er so offenkundig zu den Verlierern gehört, kann man nicht umhin, über sein Los nachzudenken. Jetzt wissen wir, daß das Werden mit dem Ausweglosen veschmilzt, daß die Zeit eine tragische Würde besitzt, die ihr Ansehen sogar in den Augen derer, die sie verabscheuen, wiederherstellt.

Was das Dasein erträglich macht, ist der Gedanke, daß unsere Nachkommen uns notgedrungen beneiden werden. Wie hat man so lange Zeit auf eine idyllische Zukunft setzen können, wie es derart an Einsicht und, was noch schlimmer ist, an gesundem Menschenverstand fehlen lassen können? Wären wir damit begabt gewesen, so hätte die Geschichte sich nicht ereignet, unsere Bescheidenheit hätte ihr ein Ende gesetzt, und wir wären heute, was wir zu Beginn waren, unbedeutende Geschöpfe ohne die faszinierende Zwangsvorstellung des Desasters

Nach einer so langen Phase der Hysterie ist es unvorstellbar, daß der Wille zum Innehalten sich nicht aller bemächtigt hat. Leider gelangen die Völker nicht zur gleichen Zeit zum gleichen Stadium des Überdrusses. Eine auf ihr Ende zusteuernde Menschheit wäre im Notfall erträglich. Das ist nicht der Fall bei einer ungleich abgenutzten Menschheit. Ein allgemeines, gleichzeitiges Innehalten würde das Trugbild des Paradieses erneut heraufbeschwören. Die Ungleichheit der Abnutzung und des Widerwillens wird stets die Wiederherstellung der ewigen Gegenwart verhindern, den Sieg über den satanischen Charakter des Werdens. Aufgeben, ein ehemaliger Sterblicher sein, ein absoluter Nicht-Bürger, ein metaphysischer Asylant, das sollte der Traum eines jeden sein. Welcher Irrtum, irgend etwas angestrebt zu haben, sich abzumühen, um Spuren zu hinterlassen, im Grunde eine Identität zu haben!

Das einzig positive Zeichen unserer Epoche, der einzig wirkliche Fortschritt: in seinem Innersten glaubt kein luzides Wesen an die Zukunft, oder wenn es an sie glaubt, so aufgrund eines Automatismus, aufgrund eines ererbten Mißverständnisses. Dieses ist stärker als die Gewißheit, von der die Desillusion lebt, jenes poetische Äquivalent der Erkenntnis.

Das Werden: eine Folge von relativen Sackgassen mit der Sackgasse schlechthin als Endstation. Eine Art von Triumph gegen den Strich. Man versteht nichts von der Geschichte, wenn man darin etwas anderes sieht als die Prunkentfaltung einer namenlosen Ironie. Warum irren wir uns in unseren Mutmaßungen, warum geben sogar die Skeptiker oft den Reizen der Naivität nach? Weil es widernatürlich ist, sich vor der Allmacht des endgültigen Nicht-Sinnes zu beugen. Sollte man Pläne schmieden, während man auf dem Friedhof spazierengeht? Zweifelsohne nicht, aber genau das tun wir alle trotzdem. Das Leben ist nur möglich durch das Verleugnen des Unwiederbringlichen, durch die Ablehnung des Offensichtlichen. Die Geschichte ist das Produkt dieser Verblendung. Und der Fortschritt? Eine Lüge, die hartnäckigste und zugleich die gefährdetste von allen.


(Aus dem Französischen von Verena von der Heyden-Rynsch)


In: Peter Sloterdijk (Hg.), Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft, Band 2. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1990 (edition suhrkamp ; 01550), S. 660-667.

Dienstag, 22. August 2006

ICH BIN

HANS BLUMENBERG

Die erste Frage an den Menschen
All der biologische Reichtum des Lebens verlangt eine Ökonomie der Erklärung


»Adam, wo bist du?« Der Mensch hatte eine kleine Unordnung im paradiesischen Garten gestiftet, und schon hatte der Herr des Gartens die Übersicht ein wenig verloren. Der Mensch hatte sich versteckt, weil er erkennen mußte, daß er nackt war. Nackt zu sein bedeutete, daß er sich vor dem Erblicktwerden fürchtete. Denn voreinander hatten diese beiden, als sie nach dem Apfelraub einander nackt sahen, sich mit Feigenlaubschurzen behelfen können. Es war ein anderer Blick, vor dem sie sich fürchteten. Und an ihrer Furcht erkannte der Gott, was sie getan hatten: »Wer hat dir gemeldet, daß du nackt bist?«

Eine winzige Streichung im Text, und man bekommt aus dem Gott des Mythos einen der Philosophen. Er hätte gerufen: »Adam, bist du?« Und Adam hätte nur den ersten philosophischen Satz der Weltgeschichte zu sagen brauchen: »Ich bin.«

Weshalb wäre dies, nicht nur dem Wortlaut nach, keine mythische Frage mehr? Weil sie die einzige Frage gewesen wäre, die auch einem allwissenden Gott an den Menschen zu stellen gut angestanden hätte. Denn diese einzige Gewißheit des »Ich bin« konnte nur der selbst haben, der sie hatte. Sie mußte ihm abgefragt werden, und niemand sonst hätte es mit der Evidenz dieser Antwort als Wissender aufnehmen können. Keine kleine Ungewißheit des Menschenmachers hätte aus der Frage gesprochen, ob er denn auch das Werk zustande und zum Sein gebracht hätte. Es wäre eine des absoluten Wissens würdige Frage gewesen – und zugleich die der Begründung einer endgültigen Philosophie zusammen mit dem Anfang der Menschengeschichte.

Wären wir noch im Zeitalter der vielfachen Schriftsinne, könnte es nicht unerlaubt sein, den Wortlaut der Frage »Adam, wo bist du?« als bloße Allegorie für den letzten und tiefsten der unbuchstäblichen Sinne zu nehmen: »Adam, bist du?«
Aber so war es nicht, und daß es nicht so war, läßt uns am knappsten aller Fälle erfassen, was das ist: ein Mythos.

Der Mensch ist das Randgruppensäugetier

Die Gegner der biologischen Entwicklungstheorie haben ihr stärkstes Argument im Fehlen fossiler Übergangsformen. Die Funde belegen überwältigend die scharfe Abgrenzung der Arten bis hin zu ihren rezenten Ausprägungen. Nun wäre selbst für den Fall, daß es die Übergangsformen nie gegeben hat – also nicht nur die Wahrscheinlichkeit des Übergewichts der ausgebildeten Formen die Fundlage bestimmt –, die Schärfe der Abgrenzungen durch die Selektion zu erklären. Im doppelten Sinne, daß immer ein Überlebensvorteil erst das Alter der Geschlechtsreife überhaupt erreichen läßt und dann wiederum die Begattungsanwartschaft mit einem Mechanismus der Auswahl bestimmter Merkmale verbunden ist. Innerhalb einer Population fallen also alle Rand- und Übergangseigenschaften heraus, die Ausprägung verdichtet sich, das Artbild verschärft seine Konturen ständig.

In der Domestikation wird dieser Prozeß ausgeschaltet: entweder durch die Abschirmung vor Wildbahnbedingungen durch Hegung und Fütterung oder durch den züchterischen Eingriff des Menschen, der andere Eigenschaften als die der natürlichen Vorzüge und Prägungen herausholen und sich nutzbar machen will, die Paarungen dazu beeinflußt und kanalisiert. Das kann von der viehhalterischen Nutzung bis zur spielerischen Kultivierung von Varianten und Mutanten gehen wie bei der Formenvermehrung des Haushundes, bei dessen reinen Spielformen die Herkunft vom gemeinsamen Ahnen kaum noch wahrnehmbar ist und immer weniger wird. Abgesehen von Jagd-, Wach- und Hüteinstinkten entsteht eine Zuchtkultur der »Entartung«, die mit positiven Höchstwerten besetzt sein kann wie bei den Schoßhundformen. Der Mensch hat die Selektion in die Hand genommen, und um für sie das reichste Variantenmaterial zu bekommen, muß er auf die Verunschärfung der Randformen setzen. »Kultur« ist hier wie in allem anderen Vergrößerung der Formenvielfalt durch Begünstigung von Auflösungsprozessen des natürlich Gegebenen – bis hin zur bildenden Kunst, wo man sich das lange verhehlt hat.

Diese Verhehlung des Konturverlustes führt zum Schwund der normativen Urbildlichkeit: Platos Ideen wie Aristoteles‘ Formen haben nicht erst durch die Theorien der Evolution ihre Basis verloren, sondern durch die Destruktion der Auffassung, auch Gott sei, sofern er überhaupt zu einer Weltschöpfung sich entschloß, an das Formprogramm der faktischen Natur gebunden gewesen wie die menschliche Phantasie an ihre faktische Wahrnehmungserinnerung. Nur der Mensch war und blieb theologisch normativ rückversichert, denn er war nach Bild und Gleichnis seines Schöpfers gemacht. Seine Natur war seine Norm: Das konnte, obwohl rein paganer Herkunft, im Christentum bis weit über das Mittelalter hinaus festgehalten werden. Der Mensch hat sich in der Vielfalt der Varianten seiner biogrammatischen Ausprägung bis in die Gegenwart hinein nicht einmal wahrgenommen. Obwohl ihm Definitionen seines »Wesens« nie recht gelingen wollten, hielt er an dessen Definierbarkeit als einer nur des Nachforschens bedürftigen Konstante fest. Die Philosophische Anthropologie würde das schon schaffen.

Aber nicht zufällig war gerade sie die späteste Disziplin der langen Philosophiegeschichte. Und statt der Blickrichtung zu folgen, die auf die »Wesenserfassung« des Menschen ging, sollte man das dabei kunstvoll Übersehene ins Auge fassen: die Unsicherheit hinsichtlich der Randschärfe dessen, was man gern das »Menschenbild« nannte. Der Konturverlust war nicht nur Resultat der empirischen Beobachtung eines Lebewesens, das die Kunst der Verstellung vor anderen und zumal vor sich selbst so glänzend beherrschte, daß es im Schauspieler geradezu den Prototyp seiner Fähigkeiten ausgebildet zu haben schien – Konturverlust war vor allem die erstaunliche Verschleifung aller normativen Beschränkungen im Verhalten, und das nicht als Verschleiß von kultureller Disziplin, sondern gerade als Inbegriff kultureller Konsequenz. Indem der Mensch als Kulturwesen seine Domestikation unbeirrt fortsetzte und auf immer neue Spitzen trieb, produzierte er sich selber als das Randgruppensäugetier. Als er wahrzunehmen begann, daß es im Menschlichen nichts gab, was es nicht gab, machte er aus dieser »Not« der atypischen Pluralisierung eine Tugend. Sie bestand in der zu jedem weiteren Schritt jederzeit bereiten Toleranz gegenüber seinen Randgruppen, die sich zumal im Bereich des Sexualverhaltens über Jahrtausende hatten verbergen oder anpassen müssen.

Was erst ein Jahrhundert zuvor unter dem Begriff der »Perversion« entdeckt und in der Disziplin der »Pathologia sexualis« handbuchfähig geworden war, wurde durch Quantifizierung, durch prozentuale Anteilsbestimmung »normalisiert«: nicht nur der Ablehnung entzogen und der Duldung empfohlen, sondern zur Exposition in eigenen Kulturformen ermutigt und gefördert. Wenn anthropologisch irgend ein Begriffswandel signifikant ist, dann der der Negation von »Normalität«. Gab es immer schon einen Unterhaltungswert des Atypischen, der Riesen und Zwerge, der Monstrositäten, so waren sie doch zu ihrer Exhibition als Anpassung an Schaubedürfnisse der anderen bitter genötigt, während die moderne »Randgruppe« ihre Exhibition als Akzentuierung ihres Rechts »genießt« oder wenigstens vorgibt, dies zu tun, da niemand sie darauf noch befragen dürfte. Man zeigt sich nackt – das gilt unter bewußtem Verstoß nicht so sehr gegen Sitten als gegen »Ideale« von Vorzeigbarkeit, die nicht nur vom ästhetischen Begriff der »Schönheit« determiniert sind. Die »Ästhetik des Häßlichen« hat nur diesen Konturverlust angekündigt mit dem für kurze Frist provokanten »Alles ist Kunst«, dessen Prophetie auf das »Alles ist möglich« ging, das nun nicht mehr nur für Gott gelten sollte, bei dem »kein Ding unmöglich« sei, sondern endlich auch für sein Ebenbild und Gleichnis, das Randgruppensäugetier, das sich in der Unendlichkeit seiner Varianten proklamiert als »das wesenlose Wesen«.

Physiker wähnen sich gelegentlich der Lösung der Welträtsel näher als andere Leute, und das ist ihnen zu gönnen. Wenn sie in Jugendjahren Bedeutung für ihre Disziplin gewannen, werden sie mit Prophetenmiene noch bedeutender. Warum sollte nicht, wer eine große Schwierigkeit hirnlich bewältigt hat, auch für anderes hellsichtig sein? Andere versuchen es, gleich auf der Weltweisenstufe anzufangen und sich so umgekehrt noch fürs Fachliche Erwartungen zu wecken.

Der nach allen Regeln seiner Kunst ausgewiesene Wiener Physiker Ludwig Boltzmann stieß bei seiner von ihm mit Humor beschriebenen Amerika-Reise kurz vor der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert in Pacific Grove in Kalifornien auf die Spuren von Jacques Loeb, dessen Experimente mit Seeigeln und Seesternen der alten Metaphysik von der »Lebenskraft« als dem Verursacher aller organischen Verbindungen und damit aller Lebensprozesse einen der heftigsten Stöße versetzt hatten. Loeb hatte die künstliche Parthenogenese mit Hilfe von Chemikalien erzielt und bewiesen, daß es durchaus des männlichen Samens nicht bedurfte, um die »der Wirkung von Kohlensäure, Buttersäure oder Propylessigsäure unter passenden Umständen ausgesetzten Eier« sich so entwickeln zu lassen »wie normal befruchtete«. Auf dieser »Reise eines deutschen Professors ins Eldorado« (der Wissenschaft) erinnerte sich Boltzmann, in welche Verlegenheit er sich durch die Mitteilung dieser Ergebnisse Loebs in einer Gesellschaft gebracht hatte. »Voll Feuereifer« hatte er »etwas so rein Sachliches« auszubreiten gemeint, daß er der »Absicht, Wollustgefühle zu erregen«, unmöglich verdächtigt werden konnte. Doch deutet der »Feuereifer«, den er sich bescheinigt, darauf hin, daß er einen dem Physiker nicht ganz selbstverständlich zuzutrauenden Anteil am Biologischen nahm.

Wir verstehen mit Verspätung den Triumph, der für ihn in der Ausschaltung der »Lebenskraft« lag: Wenn nun alles am Leben Chemie war, würde es bald nur noch Physik sein. Was konnte daran anstößig sein, daß sich dies im »experimentum crucis« der sexuellen Überflüssigkeit erweisen ließ? Jedenfalls hatte der feuereifrige frühe Wissenschaftspublizist zu spät gemerkt, daß diese Welträtsellösung nicht jedermanns Sache war: »Erst der plötzliche, etwas auffällige Abgang meiner Tischnachbarin ließ mich das ahnen. Später sang dieselbe Dame ein sehr zweifelhaftes Lied von Aletter.« Als er die Sängerin auf die ungleichmäßige Verteilung ihrer Abscheugefühle hinwies, zog sie sich mit der Bemerkung heraus, man verstehe eben sein Thema nicht. Worauf er: »Den Aletter aber verstehen Sie.« Dies sei »eine unserer alten Heucheleien, der die Temperenzler nun noch eine neue beifügen wollen«. Das war auch in Amerika schon aufkommendes Thema.

Aber Boltzmann wäre nicht der Mann mit dem »Feuereifer« für die Parthenogenese der Seeigel gewesen, hätte er von diesen nicht sogleich bis zum Menschen »hinauf« denken können: »… welche sozialen Umwälzungen werden daraus folgen! Eine Frauenemanzipation, wie sie die heutigen Frauenrechtlerinnen nicht einmal träumen. Der Mann wird einfach überflüssig; ein Fläschchen, mit geschickt gemischten Chemikalien gefüllt, ersetzt ihn vollständig. Dabei kann noch die Vererbung viel rationeller betrieben werden als jetzt, wo sie so vielen Zufälligkeiten unterworfen ist.« Da allerdings war Boltzmann den Welträtseln etwas ferner, als er selber es glauben mochte, und sein Freitod in Duino 1906 hat ihn vor manchem Ausblick auf die Vermehrung der Rätsel durch ihre Lösungen bewahrt.

Dennoch ist ein so rascher Übergang vom Seeigel zur Frauenemanzipation und zur Menschenzüchtung für die Jahre nach der Jahrhundertwende nicht unspezifisch. Die Lösung des Geschlechterkampfes erfolgt nicht durch Sieg oder Untergang des einen, sondern durch die schlichte biologische Überflüssigkeit bei gegebenem Chemismus der Geschlechtsbestimmung. Parthenogenese bei »homo sapiens sapiens« hinterläßt nur ein etwas müdes museales Interesse an der maskulinen Seite: »Es werden davon nur wenige Exemplare für die zoologischen Gärten erzeugt.« Ob Boltzmann diese Gedanken nur im stillen an der Stätte des großen Triumphes über die »Lebenskraft« dem Biologen geweiht hat oder ob er sie nochmals mit Feuereifer in einer weniger prüden Gesellschaft ausspielen konnte, erfahren wir nicht. Das letztere ist eher unwahrscheinlich.

Aber ein Anschlußgedanke dürfte noch vom Lokalgeist inspiriert gewesen sein: Mit der Befriedung der Geschlechter und der Lösung aller mit ihrer Differenz verbundenen, gerade eben in Wien voll erschlossenen Probleme würde nicht nur der Mann als Kuriosität der Schaustellung funktionslos – schlimmer, aber in Amerika wohl werbewirksamer, war eine andere Folge: »Dann freilich wird auch der Wein überflüssig sein.«

Man kann kaum glauben, um fast ein Jahrhundert zurückversetzt zu werden mit dieser »Futurologie« Boltzmanns. Die Attitüde, vom Guckloch in der Welträtselwand her sogleich ein ganzes Bündel der gerade drängenden oder vermeintlich akuten Probleme in den Griff zu bekommen, ist ein vertrautes Libretto. Man hat einen großen Gegner, die nichts erklärende und alles vorspiegelnde »Lebenskraft«, und kaum ist er niedergerungen oder wenigstens geschwächt, öffnen sich die Riegel vor den Geheimnissen – nicht nur des Weltalls, das war immer ein wenig zuwenig –, sondern des Menschen und seiner Gesellschaft, der Sexualität und der Temperenz, später: Prohibition. Das Zurückkommen von der Welt auf den Menschen, den man doch gerade mit jedem Schritt der Welterkenntnis um seine Weltwichtigkeit gebracht hatte und bringen wollte, ist wie die untergründige Vergeltung des Laplaceschen Dämons dafür, daß der theoretische Mensch ihm und nur ihm gleichen wollte – während er dabei wie auf einem heimtückischen Umweg für sich die Probleme »aus der Welt« schaffte, von denen er immer glaubte, sie gehörten da nicht hinein. Würde nicht einmal dem Zootier »Menschenmann« sein Weintrost vom Zoofeminat gelassen?

Hätte es Galilei und Darwin nicht gegeben

Während manche noch die Haare raufen und sich fragen, ob man es mit der Physik jemals so weit hätte kommen lassen dürfen, wie es gekommen ist, blicken andere schon zurück und zweifeln, ob man jemals mit ihr hätte anfangen dürfen und man in Rom womöglich noch zu zimperlich mit Galilei umgesprungen sei, ihm nur die erste Folterstufe der »leichten Abschreckung« (territio levis) vorzuführen.

Man muß zugeben: Die zweite Zweifelsfrage ist konsequenter als die erste. Denn zu glauben, mit der Vernunft stände es so, daß man ihr jederzeit aus Vernunft Einhalt gebieten könne, ist die Täuschung derer, die jene Verdoppelung der Vernunft leichthin mitmachen, die Kant fast wortspielend vorgenommen hatte, als er sie zum Subjekt und Objekt seiner Kritik zugleich ernannte. Es kann sowohl Vermutung wie auch Befürchtung genannt werden, daß es nur dieselbe Vernunft ist und sein wird, die die Schrecknisse ihrer Folgen und Nebenfolgen immer noch so rechtzeitig einholt, daß sie in einer Art immanenten Rüstungswettlaufs von Mitteln und Gegenmitteln ihren Namen dennoch – und nicht zuletzt durch die Funktion ihrer Alarmsysteme – rechtfertigt. Zurückzudrehen gibt es da nichts. Die Illusion, es tun zu können, ist blanke Demagogie oder Bigotterie. Beide Formen gibt es seit je als Begleiterscheinungen der Geschichte der Vernunft, als Abspaltungen der extremen Flügel ihrer Apostaten.

Die Physik hat seit den Anfängen der Neuzeit, zumal repräsentiert durch die physikalisierte Astronomie, das ausstrahlende Modell aller erreichbaren Wissenschaftlichkeit abgegeben. Die Chemie hat nicht geruht und die Biologie wird nicht ruhen, bis sie in der Physik aufgegangen sind, obwohl ihre eigenen Spezialisierungen Disziplinen und Fachleute immer entfernterer Benennungen hervorbringen, die das heimliche Erkenntnisideal vergessen lassen, ohne es vergessen zu können.

Disziplinen haben die Qualität der langfristigen Autonomie. Daran liegt auch, daß die vermeintlich fälligen großen Entschlüsse zum »Anhalten« auf dieser oder jener Trennlinie schon deshalb nicht gefaßt werden können, weil solche Markierungen erst nachträglich erkannt und dem schon Geschehenen als fiktive Willensrichtungen nur untergeschoben werden.

Nachahmung des physikalischen »Modells« ist es in ganz anderer Weise, wenn für die Biologie in einer Bewegung des weltweiten Überdrusses gewünscht wird, es möge Darwin nicht gegeben haben. Ein frommer Wunsch, zumeist – und zumal deshalb, weil an der Größe des unbezweifelten, aber der Zweifelhaftigkeit verdächtigten Genies das Zeitmoment der Fälligkeit dessen, was möglich geworden war, übersehen wird.

Sie lag nicht nur in der seit langem vorgegangenen Anhäufung von Fakten, die ein Modell der Entwicklung aller Organismen erfordert hätten, also zumal des ganzen geologischen und paläontologischen Materials, das der Deutung bedurfte – besser: bedurft hätte, denn seine Dichte war noch weit von Andeutungen einer Kontinuität von Entwicklungslinien entfernt. Welche empirischen Fakten auch immer Darwin selbst und seine frühen Anhänger zu diesem oder jenem theoretischen Schritt bestimmt haben mögen, entscheidend ist für die Fälligkeit einer Entwicklungstheorie der Organismen gewesen, daß sie die einzige rationale Antwort auf die Frage nach der Einheit des Lebens auf der Erde war. Paradoxerweise muß man, gerade wenn man dem gegnerischen Argument der äußersten Unwahrscheinlichkeit der Entstehung von Leben aus anorganischem Material Gewicht beimißt, der homogenen Erklärung aller verschiedenartigen Ausformungen des einmal so oder so entstandenen Lebens um so mehr an Unvermeidlichkeit zumessen. Andererseits muß festgehalten werden, daß die Unüberbrückbarkeit zwischen der anorganischen und der organischen Welt spätestens mit der ersten Synthese eines organischen Stoffs, der des Harnstoffs durch Wöhler 1828 – noch von Goethe in seiner Bedeutung bemerkt und zum Homunkulus im Faust verarbeitet –, von dem Nachweis der prinzipiellen Einheit auch der Chemie und ihrer Gegenstände abgelöst worden war. Es war die Vollstreckung des rationalen Prinzips der Einheit der Materie – nun der lebendigen und der unlebendigen als der Produkte der anorganischen wie der organischen Prozesse.

Dies alles war behauptet worden oder hätte behauptet werden können, bevor es empirische Demonstrationen gab. Denn es erfüllte ein zwingendes Bedürfnis der Vernunft selbst, die Wirklichkeit als Einheit und aus der einheitlichen Leistung einer Theorie ihrer Erklärung heraus zu sehen. Für diese Leistung hatte es Vorbilder mit sehr viel geringeren Anhaltspunkten an empirischen Fakten gegeben, etwa die Kosmogonie des gerade dreißigjährigen Kant, die ihren rationalen Rahmenbedingungen nach für jede kosmologische Theorie fortan maßstäblich bleiben würde. Mehr noch: Sie war, fern jeder möglichen Entscheidung über ihre Wahrheitsnähe, das Muster für die Art, wie die Natur fortan erklärt zu werden verlangte, was auch immer sie dem Menschen an Relikten oder Prospekten ihrer Geschichte aushändigen würde.

In dieser Geschichte gibt es keine Bösewichter, keine Schuldigen, folglich auch keine denkbaren Widerrufe aus schlechtem Gewissen. Man kann das an den Konflikten derer sehen, die aus vermeintlich besserem Glauben heraus den frühen Stadien der Entwicklungstheorie Widerstand leisteten. Hätte Gott nicht, um der menschlichen Vernunft den Zugang zur Wahrheit des Glaubens weniger leicht zu machen, die fossilen Spuren einer Geschichte des Lebens, als ebenso weise wie sanfte Irreführung einer stolzen Erkenntnis, gleichmäßig und dennoch niemals zwingend über die Erde und in ihren Schichten – also vertikal wie horizontal streuend – verteilt haben können, als er dieses Wunderwerk der Welt mit einem Schlage, wenn auch nicht an einem Tage, erschuf?

Dann hätte er auch mit leichter Hand eine der spitzfindigsten Fragen im Disput von frühen Anhängern und Gegnern der Entwicklungstheorie gelöst, nämlich die, ob Adam und Eva einen Nabel gehabt hätten. Er hätte ihnen einen anerschaffen können, obwohl es die natürliche Ursache für die Entstehung dieses Merkmals der Embryologie noch nicht gab. Es wäre zu dem Zweck geschehen, daß sie ihre natürlicherweise mit Nabeln versehenen Nachkommen als ihresgleichen würden anerkennen können und diese umgekehrt jene nicht als an der menschlichen Grundausstattung benachteiligte und nun im Fortschritt überholte Vorgänger mißachten könnten: zur Vermeidung eines Fremdheitsstigmas.

Der Omphalos-Streit erweckt in allen Aspekten Unbehagen. Er setzt einen Gott voraus, der mit Tricks arbeitet, um die menschliche Vernunft ein wenig oder ein wenig mehr irrezuführen. Zwar im Dienst höherer Zwecke, aber doch unter Manipulation von Erkenntnis und Fakten. Wo wäre die Grenze dessen, was dem Menschen zu seinem Heil abverlangt oder zugespielt worden wäre und werden dürfte?

Auf einmal sieht der mit der neuzeitlichen Geistesgeschichte Vertraute, wie sich da inmitten des neunzehnten Jahrhunderts etwas wiederholt, womit Descartes fertig geworden zu sein geglaubt hatte: die Wiederkehr des genius malignus, des Dieu trompeur. Jetzt schien er nötig geworden, um den Menschen vor einer Anmaßung seiner wissenschaftlichen Vernunft zu bewahren: das Geheimnis der Welt gelüftet und sie im ganzen aus einem einzigen Prinzip, dem ihrer Entstehung, erklärt zu haben. Man wußte eben jetzt genauer, was dem Menschen durch seine Vernunft drohte, als es Descartes konstruiert haben konnte, wenn er sich über die Motive eines sehr mächtigen Geistes oder gar Gottes im unklaren war, der aus der unergründlichen Tiefe seiner Ratschlüsse heraus den Irrtum über den Menschen verhängte und in dessen Urteil daher nur der Bösartigkeit geziehen werden konnte.

Natürlich war es im Typus schon für Descartes der Gott der Frommen gewesen, der zugunsten unbekannter jenseitiger Heilsvorstellungen den Menschen an der Gewinnung derjenigen Erkenntnisse hätte hindern können, die er zur endgültigen Sicherung und Verlängerung seines diesseitigen Lebens und Erfolges, für endgültige Moral und endgültige Medizin, benötigte. Ein ins neunzehnte Jahrhundert zurückgekehrter Descartes hätte sein ganzes Werk nochmals beginnen müssen, um zu zeigen, daß es mit der absoluten Güte und Weisheit des unendlichen Wesens unvereinbar sein mußte, den realisierbar gewordenen oder als realisierbar erscheinenden höchsten Anspruch der Vernunft in der genetischen Darstellung des Weltprozesses durch absichtliche Irreführung zu blockieren.

Was Descartes für seine noch schwächliche Hypothese einer Kosmogonie nicht hatte voraussehen können, war die strikte Vereinheitlichung aller Erscheinungen des Lebens durch die Entwicklungstheorie. Ein Anhänger der Erschaffung der Welt und der Lebewesen unmittelbar aus der göttlichen Idealität heraus wird nicht ohne weiteres behaupten dürfen, diese Einheit des Reiches der Lebewesen sei genau das, was man von einer schöpferischen Kraft erwarten könne, die nach einem überlegenen Grundprinzip vorgegangen wäre. Da vergißt man, daß das Entzücken der Vernunft über die Einheitlichkeit der Erscheinungen auch ein Zeugnis ihrer Armut ist. Sie ist froh, es nicht in jedem Phänomen der Welt mit etwas Einzigartigem zu tun zu haben, bei dem sie jedesmal gleichsam von vorn zu beginnen hätte, es zu erklären, so daß keiner ihrer Erfolge bei dem einen auch etwas ausmachte für die Möglichkeit der Erklärung bei dem anderen.

Für die Ansicht vom schöpferischen Absoluten würde man, unbefangen befragt, eher an das gegenteilige Prinzip zu denken haben: Demonstration eines unendlichen Reichtums, Unvergleichlichkeit und Unbeziehbarkeit der Phänomene aufeinander. Eine Schöpfung, das wäre der bloß äußerliche Inbegriff einer Welt von Unikaten. Ebendas aber ist sie nicht. Der Reichtum des Lebens müßte uns unheimlich sein, statt uns zu entzücken, wenn die Vernunft nicht so erfolgreich darin wäre, dem Übermaß der Erscheinungen durch die Ökonomie ihrer Erklärung entgegenzutreten.

Marx’ Unsicherheit gegenüber Darwin

In der Dialektik von Marx ist der Erfolg des Kapitalismus in der Erzeugung von Überfluß und sogar das Überdauern dieses Erfolges über die Zerstörung des Kapitalismus hinaus Voraussetzung dafür, daß jenseits dieser Epoche eine Welt der Gleichheit der Möglichkeiten entstehen kann. Dieser Erfolg der Überflußproduktion beruht freilich auf der extremen Ungleichheit und der Verelendung des Proletariats, die damit nicht nur zur Voraussetzung der absoluten Notwendigkeit der Veränderung und des ihr entsprechenden Willens wird, sondern auch zur Kausalität der Glücksmöglichkeit des ihr folgenden Zustandes. Wäre die Knappheit der Güter die wirkliche Prämisse der Evolution, so wäre die Großzügigkeit des Kommunismus, jeden zum Fischen, Viehzüchten oder Kritisieren gehen zu lassen, wenn er dazu Lust hat, nicht realisierbar. Daß auch noch die großen Schlampereien des bürokratischen Systems mit verkraftet werden mußten, wollte Marx nicht ahnen, sonst hätte er an das Maß des dazu nötigen Überflusses wohl doch nicht glauben können. Die Evidenz der revolutionären Situation besteht eben nicht nur im Erreichen der Grenze der Reproduktionsmöglichkeiten, sondern in der gleichzeitigen Sichtbarkeit des möglichen Auskommens aller. Die Evidenz dieses Kontrastes schließt die Gesetzlichkeit des Kampfs ums Dasein als der ständigen Struktur der Geschichte aus.

Zwischen Darwin und Marx besteht nicht nur eine bestimmte inhaltliche Differenz, sondern eine Antithetik der anthropologischen Voraussetzungen. Darwins Theorie läßt sich auf die Formel bringen, daß nur die äußerste Knappheit der Lebensmöglichkeiten die Steigerung der organischen Qualität herbeizunötigen vermag und daß auch der Mensch nur die Konsequenz dieses organischen Gesamtgesetzes ist, in dem seine Vernunft der Inbegriff der durch Not erzeugten Findigkeiten ist. Marx ist erkennbar einer Anthropologie verbunden, die den Menschen letztlich doch als reiches, als Überflußwesen konzipiert hat, das nur episodisch von den Mängeln gequält und bedrückt wird, die es als eine Art negativen Luxus der Geschichte sich selbst erzeugt hat. Vergleicht man Marx mit der »negativen Dialektik«, so wird der Hintergrund der idealistischen Anthropologie deutlicher: Marx hat keine Zweifel daran, daß sich denken läßt, was mit der Produktion des Überflusses jenseits der revolutionären Wendung erreicht werden kann, weil die Freisetzung des Menschen bereits die Garantie seiner anthropologischen Substanz besitzt, während bei Adorno der im Verblendungszusammenhang Stehende das jenseits desselben möglich Werdende überhaupt nicht zu konzipieren vermag. Das wirft die Schwierigkeit auf, ob die Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit überhaupt wahrgenommen werden kann. Bei Marx beruht der Zukunftsentwurf ganz auf den gegenwärtigen Möglichkeiten, nicht auf den erst zukünftig denkbar werdenden, sonst könnte der revolutionäre Wille gar nicht aus der momentanen Evidenz des Kontrastes von Möglichkeit und Wirklichkeit spontan entstehen.

Die Unsicherheit von Marx in seiner Einstellung zu Darwin, dem er aus so vielen Gründen der Affinität gern recht geben möchte, bezieht sich auf die ihm selbst nicht vollends durchsichtige Unerträglichkeit des Malthusianismus in den Voraussetzungen der Evolutionsmechanik von Darwin. Diese Unerträglichkeit ist gut fundiert in seiner Anthropologie des Überflußwesens. Die Gegenprobe in der gegenwärtigen Diskussion besteht darin, daß die Anthropologie des Menschen als eines Mängelwesens unausweichlich auf den Institutionalismus und sein konservatives Hauptpostulat führt: Jedes Risiko elementarer Veränderungen am Institutionensystem des Menschen ist notwendig zu groß.

Zurück noch einmal zu dem von Engels am Grabe des Freundes gezogenen Vergleich zwischen Darwin und Marx. Der Vergleich ist so falsch, weil er die Gesetzlichkeiten der Natur und der Geschichte in einem Atemzug nennt. Das ist nicht ein akzidentelles, sondern ein wesentliches Mißverständnis von Engels, der die Dialektik gern als das homogene Naturgesetz aller Realitäten gesehen hätte. Dann aber durfte er nicht zugeben, daß die Geschichte nach einer der Natur entgegengesetzten Prämisse determiniert war, wenn sie zu dem proklamierten Ziel gelangen sollte: Die auf den revolutionären Nullpunkt zutreibende Verelendung mußte die Bedingung steigender Güterfülle und damit eine Akkumulation von nachrevolutionären Möglichkeiten sein. Das ließ Darwin nicht zu, bei dem der Prozeß der organischen Evolution sofort zum Stillstand und zum Verfall der Explosion untüchtiger Varietäten kommen mußte, sobald der Druck der Knappheit auch nur nachließ.



DEM SEIENDEN NÄHER

Platon : Das Höhlengleichnis
Sokrates erzählt, wie er Glaukon den Höhlenmythos erzählt hatte
Politeia VII; 514 A bis 517 A

Übersetzung von Hans Blumenberg





Stelle dir vor: Da befinden sich Menschen in einem unterirdischen höhlenartigen Gehäuse. Nach oben zum Licht hin verläuft ein langer Gang an der Höhle entlang. In dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken. Sie können sich nicht von der Stelle bewegen und nur vor sich hin blicken. Die Köpfe zu wenden verwehrt ihnen die Fesselung. Licht fällt auf sie von einem Feuer, das oberhalb und rückwärtig entfernt von ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefesselten liegt etwas höher ein Weg, an dem entlang du dir ein Mäuerchen vorstellen mußt, wie die Gaukler Schranken zwischen sich und den Zuschauern aufrichten, um über diesen ihre Kunststücke vorzuführen.

Ich sehe es vor mir, sagte (Glaukon).

Dann stelle dir weiter vor, wie an diesem Mäuerchen entlang Leute allerlei Gebilde tragen, die über das Mauerwerk hinausragen. Es sind steinerne wie hölzerne Darstellungen von Menschen und Tieren sowie mancherlei andere Kunstformen. Die Vorführer dieser Gebilde mögen sich wohl unterhalten, einige werden still sein.

Von einem wunderlichen Bild erzählst du und von wunderlichen Gefangenen, sagte (Glaukon).

Aber doch ganz ähnlich uns, sagte ich. Menschen in dieser Lage haben, das wirst du zugeben, von sich selbst und voneinander seit jeher keine andere Kenntnis als durch die Schatten, die das Feuer auf die Höhlenwand vor ihnen wirft.

Wie sonst, sagte er, wenn sie durch Zwang auf Lebenszeit die Köpfe unbewegt halten müssen?

Was aber sehen sie von den Gebilden, die hinter ihnen vorgeführt werden? Etwas anderes (als deren Schatten)?

Was sonst?

Könnten sie nun miteinander erörtern, was sie da sehen, würden sie es nicht auch nach deiner Meinung nach für das Seiende selbst halten?

Es bleibt ihnen nichts anderes übrig.

Was aber weiter, wenn im Gewahrsam der Gefesselten ein Echo von der Hinterwand der Höhle her käme? Spräche dann einer von den hinter ihnen Vorüberge¬henden, würden sie etwas anderes für sprechend halten als die gerade vor ihnen einherziehenden Schatten?

Bei Zeus, nein!, sagte er.

Alles in allem, sagte ich, könnten Menschen in solcher Lage für wahrhaft wirklich nur die Schatten jener künstlichen Gebilde halten.

Daran führt kein Weg vorbei, sagte er.

Nun aber achte auf das, was geschieht, wenn sie von den Fesseln befreit und von ihrem Unverstand geheilt würden, was es auch damit von Natur aus auf sich haben möge. Sobald einer befreit wäre und gezwungen würde, sofort aufzustehen und sich umzudrehen, loszugehen und ins Licht zu blicken, könnte er das alles nur unter Schmerzen, wäre auch wegen der Augenblendung außerstande, jene Gebilde zu erkennen, von denen er bis dahin nur die Schatten gesehen hatte. Was würde er deiner Meinung nach sagen, wenn ihm einer nun erklärte, er habe zuvor nichts als Truggebilde gesehen, sei jetzt aber dem Seienden viel nähergekommen und habe die rechte Blickrichtung auf das Mehrseiende eingeschlagen? Wenn man ihm nun jedes der vorgeführten Gebilde ziegte und ihm Antwort auf die Frage abverlangte, was das sei – gibst du nicht zu, daß er ratlos wäre und daran festhielte, das vor all diesem Gesehene sei wirklicher gewesen als das ihm jetzt Vorgewiesene?

Ich gebe es zu, sagte (Glaukon).

Nun, wenn man diesen auch noch zwänge, ins Licht (des Feuers) selbst zu blicken, würden ihm da nicht die Augen wehtun, so daß er sich abwendete und flüchten wollte zu jenen Schatten, deren Anblick er auhalten konnte? Und würde er dann nicht dabei bleiben, sie seien in Wirklichkeit deutlicher als das, was man ihm jetzt zeige?

So ist es, sagte (Glaukon).

Ich weiter: Wenn nun irgendwer ihn von dort wegzerrte und durch den unebenen steilen Aufgang hindurchzwängte, ohne von ihm abzulassen, bis er ihn ans Tageslicht hinausgebracht hätte – müßte der derart Verschleppte nicht voll Schmerz und Wut sein? Und nachdem er ans Licht gekommen ist, hat er da nicht die Augen voll von Glanz, so daß er wiederum nichts von dem erkennen kann, was man ihm diesmal als das Wahre bezeichnet?

Nichts kann er erkennen, sagte (Glaukon), wenigstens nicht im ersten Augenblick.

Wohl nicht ohne Eingewöhnung, meine ich, wenn er zur Anschauung von dem da oben gelangen soll. Dabei fiele ihm zuerst am leichtesten der Blick auf die Schatten, danach auf die Spiegelungen von Menschen und anderem im Wasser, schließlich auf all dieses als es selbst. Davon wieder würde er, zumindest bei Nacht, leichter anschauen können, was am Himmel erscheint und den Himmel selbst angesichts des Lichtes der Sterne und des Mondes, schwerer bei Tage die Sonne und ihr Licht.

Wie sonst?

Schließlich wird er so weit sein, daß er die Sonne – nun nicht mehr im Wasser oder einem anderen Widerschein – unmittelbar als sie selbst an ihrem Ort im Blick auszuhalten und ihre Beschaffenheit zu bestimmen vermag.

Er wird es dahin bringen, sagte (Glaukon).

Über sie wird er aus allem den Schluß ziehen können, daß sie es sein muß, die die Jahreszeiten kommen und gehen wie die Jahre und alles andere vorbeiziehen läßt, was sich im Einfluß ihrer Strahlung befindet. Mehr noch: Als Ursprung von allem ist es sogar von jenem, was jene (in der Höhle) auf irgendeine Weise vor sich sehen.

Es ist klar geworden, sagte (Glaukon), daß er über jenes hinaus zu diesem vordringen würde.

Wie aber jetzt weiter? Er könnte sich erinnern an das frühere Gehäuse und die dort geltende Weisheit sowie die damals mit ihm Gefesselten. Glaubst du nicht, er würde zwar sich wegen des Wandels seines Geschicks glücklich schätzen, aber doch Mitleid mit jenen haben?

Und zwar sehr.

Wie ist es mit den Ehrungen und Auszeichnungen und Preisen, die sie damals untereinander ausgemacht hatten für den, der am scharfsinnigsten das Vorüberziehende erkannte und seinem Gedächtnis am genauesten einprägte, in welcher Reihenfolge und in welchen Gleichzeitigkeiten es eintraf, so daß er daraufhin das künftig Fälligste anzukündigen vermochte? Scheint jener dir noch Lust zu so etwas zu haben und Neid auf die von jenen dort am meisten Geehrten und mit der größten macht Ausgestatteten? Oder wird er es mit Homer halten und um alles lieber auf sich nehmen wollen, als Ackerknecht einem Armen zu dienen? Wird er nicht was immer auch lieber erleiden wollen, als wieder jene Truggebilde anzuerkennen und jenes Leben zu führen?

Ja, sagte (Glaukon), ich glaube es; alles würde er eher erdulden und auf sich nehmen, als wieder so zu leben.

Bedenke nun noch folgendes: Wenn dieser aus seiner neuen Verfassung wieder hinabstige, um sich an seinem selbigen Platz niederzulassen, wird er da nicht, so plötzlich aus der Sonne kommend, die Augen voll von Finsternissen haben?

Und ob!, sagte (Glaukon).

Da würde er nun wieder jene Schatten zu erkennen haben, im Wettbewerb mit den für immer Gefesselten, während sein Sehvermögen noch geschwächt ist, bevor seine Augen sich eingestellt haben, was nicht wenig Zeit der Anpassung erfordert. Müßte er sich da nicht zum Gespött machen und sich nachsagen lassen, er käme von seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurück und es könne nicht lohnen, sich an diesem Aufstieg zu versuchen? Wollte er nun Hand anlegen, andere zu befreien und hinaufzuführen, würden sie dann, sofern sie sich seiner bemächtigten und ihn umbringen könnten, ihn nicht wirklich töten?

In: Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1989, S. 91-94