Dienstag, 22. August 2006

DEM SEIENDEN NÄHER

Platon : Das Höhlengleichnis
Sokrates erzählt, wie er Glaukon den Höhlenmythos erzählt hatte
Politeia VII; 514 A bis 517 A

Übersetzung von Hans Blumenberg





Stelle dir vor: Da befinden sich Menschen in einem unterirdischen höhlenartigen Gehäuse. Nach oben zum Licht hin verläuft ein langer Gang an der Höhle entlang. In dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken. Sie können sich nicht von der Stelle bewegen und nur vor sich hin blicken. Die Köpfe zu wenden verwehrt ihnen die Fesselung. Licht fällt auf sie von einem Feuer, das oberhalb und rückwärtig entfernt von ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefesselten liegt etwas höher ein Weg, an dem entlang du dir ein Mäuerchen vorstellen mußt, wie die Gaukler Schranken zwischen sich und den Zuschauern aufrichten, um über diesen ihre Kunststücke vorzuführen.

Ich sehe es vor mir, sagte (Glaukon).

Dann stelle dir weiter vor, wie an diesem Mäuerchen entlang Leute allerlei Gebilde tragen, die über das Mauerwerk hinausragen. Es sind steinerne wie hölzerne Darstellungen von Menschen und Tieren sowie mancherlei andere Kunstformen. Die Vorführer dieser Gebilde mögen sich wohl unterhalten, einige werden still sein.

Von einem wunderlichen Bild erzählst du und von wunderlichen Gefangenen, sagte (Glaukon).

Aber doch ganz ähnlich uns, sagte ich. Menschen in dieser Lage haben, das wirst du zugeben, von sich selbst und voneinander seit jeher keine andere Kenntnis als durch die Schatten, die das Feuer auf die Höhlenwand vor ihnen wirft.

Wie sonst, sagte er, wenn sie durch Zwang auf Lebenszeit die Köpfe unbewegt halten müssen?

Was aber sehen sie von den Gebilden, die hinter ihnen vorgeführt werden? Etwas anderes (als deren Schatten)?

Was sonst?

Könnten sie nun miteinander erörtern, was sie da sehen, würden sie es nicht auch nach deiner Meinung nach für das Seiende selbst halten?

Es bleibt ihnen nichts anderes übrig.

Was aber weiter, wenn im Gewahrsam der Gefesselten ein Echo von der Hinterwand der Höhle her käme? Spräche dann einer von den hinter ihnen Vorüberge¬henden, würden sie etwas anderes für sprechend halten als die gerade vor ihnen einherziehenden Schatten?

Bei Zeus, nein!, sagte er.

Alles in allem, sagte ich, könnten Menschen in solcher Lage für wahrhaft wirklich nur die Schatten jener künstlichen Gebilde halten.

Daran führt kein Weg vorbei, sagte er.

Nun aber achte auf das, was geschieht, wenn sie von den Fesseln befreit und von ihrem Unverstand geheilt würden, was es auch damit von Natur aus auf sich haben möge. Sobald einer befreit wäre und gezwungen würde, sofort aufzustehen und sich umzudrehen, loszugehen und ins Licht zu blicken, könnte er das alles nur unter Schmerzen, wäre auch wegen der Augenblendung außerstande, jene Gebilde zu erkennen, von denen er bis dahin nur die Schatten gesehen hatte. Was würde er deiner Meinung nach sagen, wenn ihm einer nun erklärte, er habe zuvor nichts als Truggebilde gesehen, sei jetzt aber dem Seienden viel nähergekommen und habe die rechte Blickrichtung auf das Mehrseiende eingeschlagen? Wenn man ihm nun jedes der vorgeführten Gebilde ziegte und ihm Antwort auf die Frage abverlangte, was das sei – gibst du nicht zu, daß er ratlos wäre und daran festhielte, das vor all diesem Gesehene sei wirklicher gewesen als das ihm jetzt Vorgewiesene?

Ich gebe es zu, sagte (Glaukon).

Nun, wenn man diesen auch noch zwänge, ins Licht (des Feuers) selbst zu blicken, würden ihm da nicht die Augen wehtun, so daß er sich abwendete und flüchten wollte zu jenen Schatten, deren Anblick er auhalten konnte? Und würde er dann nicht dabei bleiben, sie seien in Wirklichkeit deutlicher als das, was man ihm jetzt zeige?

So ist es, sagte (Glaukon).

Ich weiter: Wenn nun irgendwer ihn von dort wegzerrte und durch den unebenen steilen Aufgang hindurchzwängte, ohne von ihm abzulassen, bis er ihn ans Tageslicht hinausgebracht hätte – müßte der derart Verschleppte nicht voll Schmerz und Wut sein? Und nachdem er ans Licht gekommen ist, hat er da nicht die Augen voll von Glanz, so daß er wiederum nichts von dem erkennen kann, was man ihm diesmal als das Wahre bezeichnet?

Nichts kann er erkennen, sagte (Glaukon), wenigstens nicht im ersten Augenblick.

Wohl nicht ohne Eingewöhnung, meine ich, wenn er zur Anschauung von dem da oben gelangen soll. Dabei fiele ihm zuerst am leichtesten der Blick auf die Schatten, danach auf die Spiegelungen von Menschen und anderem im Wasser, schließlich auf all dieses als es selbst. Davon wieder würde er, zumindest bei Nacht, leichter anschauen können, was am Himmel erscheint und den Himmel selbst angesichts des Lichtes der Sterne und des Mondes, schwerer bei Tage die Sonne und ihr Licht.

Wie sonst?

Schließlich wird er so weit sein, daß er die Sonne – nun nicht mehr im Wasser oder einem anderen Widerschein – unmittelbar als sie selbst an ihrem Ort im Blick auszuhalten und ihre Beschaffenheit zu bestimmen vermag.

Er wird es dahin bringen, sagte (Glaukon).

Über sie wird er aus allem den Schluß ziehen können, daß sie es sein muß, die die Jahreszeiten kommen und gehen wie die Jahre und alles andere vorbeiziehen läßt, was sich im Einfluß ihrer Strahlung befindet. Mehr noch: Als Ursprung von allem ist es sogar von jenem, was jene (in der Höhle) auf irgendeine Weise vor sich sehen.

Es ist klar geworden, sagte (Glaukon), daß er über jenes hinaus zu diesem vordringen würde.

Wie aber jetzt weiter? Er könnte sich erinnern an das frühere Gehäuse und die dort geltende Weisheit sowie die damals mit ihm Gefesselten. Glaubst du nicht, er würde zwar sich wegen des Wandels seines Geschicks glücklich schätzen, aber doch Mitleid mit jenen haben?

Und zwar sehr.

Wie ist es mit den Ehrungen und Auszeichnungen und Preisen, die sie damals untereinander ausgemacht hatten für den, der am scharfsinnigsten das Vorüberziehende erkannte und seinem Gedächtnis am genauesten einprägte, in welcher Reihenfolge und in welchen Gleichzeitigkeiten es eintraf, so daß er daraufhin das künftig Fälligste anzukündigen vermochte? Scheint jener dir noch Lust zu so etwas zu haben und Neid auf die von jenen dort am meisten Geehrten und mit der größten macht Ausgestatteten? Oder wird er es mit Homer halten und um alles lieber auf sich nehmen wollen, als Ackerknecht einem Armen zu dienen? Wird er nicht was immer auch lieber erleiden wollen, als wieder jene Truggebilde anzuerkennen und jenes Leben zu führen?

Ja, sagte (Glaukon), ich glaube es; alles würde er eher erdulden und auf sich nehmen, als wieder so zu leben.

Bedenke nun noch folgendes: Wenn dieser aus seiner neuen Verfassung wieder hinabstige, um sich an seinem selbigen Platz niederzulassen, wird er da nicht, so plötzlich aus der Sonne kommend, die Augen voll von Finsternissen haben?

Und ob!, sagte (Glaukon).

Da würde er nun wieder jene Schatten zu erkennen haben, im Wettbewerb mit den für immer Gefesselten, während sein Sehvermögen noch geschwächt ist, bevor seine Augen sich eingestellt haben, was nicht wenig Zeit der Anpassung erfordert. Müßte er sich da nicht zum Gespött machen und sich nachsagen lassen, er käme von seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurück und es könne nicht lohnen, sich an diesem Aufstieg zu versuchen? Wollte er nun Hand anlegen, andere zu befreien und hinaufzuführen, würden sie dann, sofern sie sich seiner bemächtigten und ihn umbringen könnten, ihn nicht wirklich töten?

In: Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1989, S. 91-94